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Interview zu nachhaltigen Entwicklungszielen: „Von Empörungskultur zu Wettstreit der Ideen“

Blog | 03. Juli 2023 | #Forschung #Nachhaltigkeitsziele #SDG #UN #Vereinte Nationen

Es ist fast genau Halbzeit: Die Agenda 2030 der UN für eine nachhaltige Entwicklung ist im Jahr 2016 in Kraft getreten. Sie benennt 17 Ziele für eine nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals, SDGs). Doch wie ist der aktuelle Stand? Ein Gespräch mit dem Nachhaltigkeitsexperten Professor Daniel Fischer.

Professor Fischer, die dringendste Frage zuerst: Wo stehen wir derzeit, nachdem etwa die Hälfte der Zeit bis zur geplanten Umsetzung der Agenda 2030 und der Ziele für nachhaltige Entwicklung verstrichen ist?

Das Bild ist eher düster: Im weltweiten Durchschnitt ist keines der Ziele auf Kurs. Der Fortschritt bei der Zielerreichung zwischen 2015 und 2019 war bereits zu langsam und ist mit der Pandemie fast zum Erliegen gekommen. In Zahlen gesprochen standen wir bereits 2015 bei 64 Prozent Zielerreichung und waren 2022, sieben Jahre später, gerade einmal bei 67 Prozent. Unschwer zu erkennen, dass sich bei diesem Tempo die Ziele nicht werden erreichen lassen. Das ist der ernüchternde Blick auf den globalen Durchschnitt. Wenn wir auf Deutschland schauen, sind wir mit einer Zielerreichung von 83 Prozent in der Spitzengruppe der Länder. Das klingt zunächst sehr positiv. Allerdings ist anzumerken, dass Deutschland 2015 bereits bei fast 82 Prozent stand. Der Fortschritt ist also auch bei uns viel zu langsam. Dazu zeigt sich eine generelle Tendenz: Die Unterschiede zwischen Ländern mit hohem gegenüber denen mit niedrigem Einkommen wachsen eher, als dass sie sich verringern – eine Entwicklung, die für die globale Nachhaltigkeit und das Ziel, allen Menschen auf der Welt, heute und in Zukunft, ein gutes Leben zu ermöglichen, höchst problematisch ist. Allerdings müssen wir die Genauigkeit, die diese Zahlen suggerieren, auch mit Vorsicht betrachten, denn es gibt zwei grundsätzliche Probleme: Erstens sind die Indikatoren oft nicht danach ausgewählt, was die Ziele am besten abbildet, sondern danach, was an statistischen Daten ohnehin verfügbar ist. Und zweitens ist die Datenverfügbarkeit an vielen Stellen sehr unbefriedigend. Datenpunkte liegen oft nur unregelmäßig vor, viele Länder oder Jahre fehlen oft vollständig. Das macht es sehr schwer, belastbare Aussagen darüber zu machen, ob und wie wir wo vorankommen.

Wo sieht es aus Ihrer Sicht besonders gut aus und wo besteht vermutlich der größte Handlungsbedarf?

Wenn wir wissen wollen, wo wir stehen, müssen wir zuerst bedenken, wie die Sustainable Development Goals (SDGs, d. Red.) aufgebaut sind: Es gibt 17 Ziele und jedes dieser Ziele ist durch Unterziele, sogenannte Targets, konkretisiert, insgesamt 169. Für die gibt es wiederum Indikatoren, die man konkret messen kann. Insgesamt gibt es 231 Indikatoren. Das alles ist  frei zugänglich in der weltweiten SDG-Datenbank. Allgemein positive Entwicklungen sind auf globaler Ebene in den Bereichen Gesundheit, Geschlechtergerechtigkeit, Wasser, Energie, Infrastruktur und Konsum und Produktion festzustellen. In Bezug auf die Zielerreichung der SDGs besteht bei Zielen wie Gesundheitsversorgung, Bekämpfung von Hunger oder der Friedenssicherung sicherlich weiterhin großer Handlungsbedarf. Die größte akute Herausforderung besteht darin, die Funktionsfähigkeit des Systems Erde zu erhalten. Klimawandel, Biodiversitätsverlust, Ressourcenausbeutung, Eingriffe in Stoffkreisläufe und Landnutzungsweisen dürfen nicht nicht isoliert, sondern nur integriert betrachtet werden, was allerdings unseren noch immer territorial und sektoral organisierten Entscheidungsstrukturen grundlegend widerspricht. Hier braucht es intensive und unkonventionelle Formen der Zusammenarbeit zwischen Staaten, aber auch innerhalb davon.

Welche Ziele unter den 17 der Agenda sind aus Ihrer Sicht mehr Absichtserklärungen, weil sie höchstwahrscheinlich sowieso nie erreicht werden können? Oder trifft das auf alle zu?

Es gibt hier durchaus eine große Vielfalt: Viele Ziele sind extrem ambitioniert formuliert, zum Beispiel das Unterziel 4.7 im Bereich Bildung: Alle Lernenden weltweit sollen bis 2030 Fähigkeiten haben, einen nachhaltigen Lebensstil zu führen. Andere sind eher schwach formuliert, etwa das Unterziel 14 von Ziel 17, das die Politikkohärenz zugunsten nachhaltiger Entwicklung verbessern will. Es wäre wünschenswert, wenn weitere wichtige und aussagekräftige Indikatoren wie Gewalt gegen Frauen, der Gender Pay Gap, die Resilienz von Gesundheitssystemen angesichts globaler Gesundheitskrisen oder durch Schulbildung von Lernenden erworbene Nachhaltigkeitskompetenzen in die Berichterstattung aufgenommen würden. Auch sollte in die Erfassung von Daten investiert werden, denn ohne eine Datengrundlage, die belastbar ist und auf die wir uns als aussagekräftig verständigen können, kann Steuerung nur im Blindflug stattfinden.

Welchen Einfluss hatte oder hat die weltweite Corona-Pandemie auf die Umsetzung der Agenda? Ist hier eine Art Nachspielzeit fair, um eventuell verlorene Zeit wieder gutmachen zu können?

Insgesamt hat die Pandemie die Fortschritte an vielen Stellen verlangsamt oder sogar wieder zunichtegemacht. Wesentliche Bereiche, die von der Pandemie betroffen waren, sind Armut und Hunger: Die Pandemie hat dazu geführt, dass Millionen von Menschen in extreme Armut geraten sind. Gesundheitssysteme weltweit waren und sind überlastet und viele essenzielle Gesundheitsdienstleistungen wurden eingeschränkt. Die langen Schulschließungen haben Millionen von Kindern den Zugang zu Bildung erschwert. Dies hat Auswirkungen auf ihre Fähigkeiten und ihr Wohlbefinden. Frauen waren von den sozioökonomischen Auswirkungen der Pandemie überproportional betroffen. Sie hatten mit dem Verlust von Arbeitsplätzen, einer erhöhten Belastung durch unbezahlte Pflegearbeit und einer zunehmenden häuslichen Gewalt zu kämpfen. Die Pandemie hat auch Auswirkungen auf die Umwelt, da beispielsweise der Einsatz von Einwegplastik und medizinischem Abfall zugenommen hat.

Viele Menschen fühlen sich hilflos, ohnmächtig angesichts solch mächtiger globaler Herausforderungen. Aber wo kann ich als Individuum in Mitteleuropa einen Unterschied machen, der auch spürbar ist? Was hat einen nachhaltigen Effekt?

Als Individuum in Mitteleuropa, insbesondere in Deutschland, gibt es tatsächlich Möglichkeiten, einen spürbaren Unterschied zu machen und einen nachhaltigen Effekt zu erzielen. Es ist verständlich, dass viele Menschen sich hilflos oder ohnmächtig vorkommen. Doch wir dürfen nicht in Ohnmacht verfallen oder in Zynismus verharren, denn das können wir uns schlichtweg nicht leisten. Es ist wichtig, die positive Kraft der Nachhaltigkeitsidee lebendig zu halten. Es geht nicht darum, nur die nächste Katastrophe zu vermeiden oder sich selbst zu geißeln. Vielmehr geht es darum, unser Leben und das Leben zukünftiger Generationen dauerhaft so gut wie möglich zu gestalten. Das ist eine grundweg positive Idee, die auch viel Energie freisetzen kann, was mir aber viel zu oft vergessen wird. Auch ist es wichtig, dass wir Nachhaltigkeit nicht nur als Aufgabe für unser privates Handeln sehen, sondern darüber nachdenken, wo wir in verschiedenen Rollen Einfluss nehmen können. Beginnen wir damit, unseren Beruf zu betrachten: Wie können wir dazu beitragen, dass das, was wir als Organisation tagtäglich tun, Menschen heute und in Zukunft ein gutes Leben auf diesem Planeten ermöglicht? Wie kann dies Teil des Selbstverständnisses, ja sogar der Mission eines sinnhaften Wirtschaftens werden? Auch als Bürger haben wir die Möglichkeit, uns in Initiativen einzubringen und politischen Vertretern und Vertreterinnen unsere Anliegen zu kommunizieren. Wir können uns bewusstmachen, dass unsere Konsumentscheidungen einen Einfluss haben. Statt uns mit unwesentlichen Kleinigkeiten aufzuhalten, sollten wir uns im privaten Verhalten auf Bereiche konzentrieren, in denen wir wirklich etwas bewirken können – etwa beim Wohnen, der Ernährung und der Mobilität. Die Aufgabe unserer Zeit ist es, gemeinsam zu lernen, den Weg aus der Nicht-Nachhaltigkeit zu finden. Dabei sollten wir ideologische Gefechte vermeiden und stattdessen Offenheit, Authentizität und Respekt an den Tag legen. Der Weg einer nachhaltigen Entwicklung ist kein idealistisches Harmonieprojekt. Es beinhaltet viele Interessenskonflikte und schwierige Abwägungen. Wir müssen lernen, diese Konflikte mit Respekt zu führen – Respekt für die Konfliktparteien, aber vor allem auch Respekt vor den Menschen, denen wir heute kein gutes Leben ermöglichen, den zukünftigen Generationen, die unsere Welt erben werden, und der Vielfalt der belebten und unbelebten Natur, die unseren Planeten zu einem einzigartigen Ort des Lebens macht und deren Teil wir sind.

Wie hoch schätzen Sie den Einfluss derartiger Zielvereinbarungen ein? Wie viele Menschen weltweit wissen überhaupt, dass es die Agenda 2030 gibt?

Wenn wir es mit anderen Initiativen vergleichen, sind die SDGs ein einmaliges Experiment und eine ziemliche Erfolgsgeschichte: Nie zuvor gab es so viel Input und Beteiligung in der Entwicklung dieser Ziele, gerade auch für zivilgesellschaftliche Organisationen. Selbst die Bildsprache hat es in den öffentlichen Raum geschafft, Politiker und Politikerinnen haben sich kleine SDG-Nadeln angesteckt. Doch bei der Frage, wer bei der Umsetzung eigentlich welche Verantwortung trägt, bleiben die SDGs sehr offen. Das war der Preis dafür, alle mit ins Boot zu nehmen. Die SDGs sind ein Kompass mit Zielsetzungen, der übersetzt und umgesetzt werden muss durch Politik, Unternehmen und Verbraucher. Die SDGs sollten nicht vorschnell als zahnloser Tiger abgetan werden. Sie haben es geschafft, den politischen und öffentlichen Diskurs deutlich zu beeinflussen und die Idee der Nachhaltigkeit zu schärfen und konkret zu machen. Darin liegt aber zugleich auch die Gefahr: Es kommt ja eben nicht allein auf eine rein technische Betrachtung einzelner Indikatoren an, sondern auf das große Ganze – nämlich die Bedingungen zu schaffen und zu wahren, allen Menschen auf diesem Planeten ein gutes Leben zu ermöglichen, heute und in Zukunft.

Wie könnte man diesen Bekanntheitsgrad steigern und welche (positiven) Auswirkungen hätte dies zur Folge?

Ein Weg ist die Förderung von Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE). BNE zielt darauf ab, nicht nur Bewusstsein und Wissen über nachhaltige Prozesse und Hintergründe zu schaffen, sondern auch Menschen dazu zu befähigen, am Diskurs teilzunehmen und kritisches Denken zu entwickeln. Es ist erfreulich, dass BNE mittlerweile auch bildungspolitisch anerkannt ist. Auf politischer Ebene ist eine Nachhaltigkeitsstrategie als Querschnittsthema von großer Bedeutung. Es gibt inzwischen mit dem Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung eine Art Prüfstelle im Bundestag, um die Kohärenz von Gesetzesvorhaben mit Nachhaltigkeitszielen zu prüfen – diese Institution kann und sollte jedoch weiter gestärkt werden. Auch auf unternehmerischer Ebene müssen wir Nachhaltigkeit in den Mittelpunkt des Handelns rücken. Es geht darum, Bedingungen zu schaffen, die eine verlässliche Offenlegung von Nachhaltigkeitsinformationen gewährleisten. Das Lieferkettengesetz ist ein Beispiel dafür, wie Transparenz für Verbraucher geschaffen werden kann. Die Medien spielen ebenfalls eine wichtige Rolle. Es ist entscheidend, dass sie kontinuierlich über Fortschritte berichten, aber auch darüber informieren, wer welche Fortschritte verhindert. Es ist von Bedeutung, einen vermeintlichen Konsens bezüglich der Nachhaltigkeitsziele zu hinterfragen. Wo sind wir uns über die Ziele und Richtung einig, aber nicht über den Weg? Hier sind angesichts von Polarisierungstendenzen wichtige Aufgaben zu leisten, um von einer Empörungskultur zum Wettstreit der Ideen zu kommen. Insbesondere vor Wahlen ist es wichtig zu erfahren, wie die verschiedenen Parteien zu den Zielen stehen und wie sie sie umsetzen wollen.

Daniel Fischer ist derzeit Associate Professor für Konsumentenkommunikation und Nachhaltigkeit an der Universität Wageningen (Niederlanden), ab August 2023 doziert er als Professor für Bildung für nachhaltige Entwicklung und Sachunterricht an der Leuphana Universität Lüneburg.

Nils Hartung